Wie man einer kranken Gesellschaft entkommt

Wo der Meinungskorridor immer enger und willkürlicher gezogen wird, muss man kein Pessimist sein, um totalitäre Strukturen zu fürchten. Ein Leitfaden für Freiheitsfreunde.

Maximilian Lenz: A World (1899)A World, Maximilian Lenz (1899)

Das 20. Jahrhundert hat deutlich gezeigt, dass der Totalitarismus keine Lösung für irgendein Problem ist, sondern eine soziale Krankheit der schrecklichsten Art. Durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts wurden mehr unschuldige Männer, Frauen und Kinder getötet als durch Naturkatastrophen oder Pandemien. Wenn wir also das Pech haben, in einer Welt zu leben, die mit der Krankheit des Totalitarismus liebäugelt, was können wir dann tun, um ihr zu entkommen? Und vor allem: Wie könnte eine Flucht nach vorne aussehen?

Alexander Solschenizyn schrieb dazu zwischen 1958 und 1968 in "Archipel Gulag" über den Abstieg der Sowjetunion in eine totalitäre Herrschaft: „Wir haben die Freiheit nicht genug geliebt. Und mehr noch – wir hatten kein Bewusstsein für die tatsächliche Situation … Wir waren in Eile, uns zu unterwerfen. Wir unterwarfen uns mit Freude! … Was danach geschah, verdienten wir schlicht und einfach.“

Es geht um die Anpassung an die heutige Gesellschaft. Denn wenn man sich länger mit den Menschen unterhält, stört die Menschen doch sehr viel an der Gesellschaft, aber kaum einer ist bereit den Druck auszuhalten und sich gegen die Gesellschaft zu stemmen.

Jiddu Krishnamurti hat dies in einem Satz treffend zusammengefasst: "Es ist kein Zeichen von geistiger Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein."

Mark Twain fasst dies ebenfalls sehr gut zusammen und zeigt welchen Grenzen die menschliche Entwicklung unterliegt - Grenzen die aufgelöst werden müssen, damit etwas Neues entsteht: "Noch niemals sah ich einen Menschen, der wirklich die Wahrheit sucht. Jeder, der sich auf den Weg gemacht hatte, fand früher oder später, was ihm Wohlbefinden gewährte. Und dann gab er die weitere Suche auf."

Da es sich bei den Vorgängen emergente Systeme handelt, kommen wir zu der Frage, wie man diese natürliche Entwicklung gestalten kann und wie daraus eine neue Gesellschaft im positiven Sinne entstehen kann. Denn immer mehr Menschen erkennen, dass ihre Wünsche keine wirklichen Bedürfnisse sind, sondern nur Schein, erzeugt von den Medien und denen, die produzieren lassen und handeln, um die Menschen abzuhalten von dem, was wirklich wichtig für ihre Entwicklung ist, um sie in den Fesseln der Materie zu binden.

In der Hindu-Philosophie kann man die aktuelle Zeit, in der Maya (der indische Begriff für Täuschung und Betrug) seine Triumphe feiert, wie folgt beschreiben: "die mächtige Kraft, die die kosmische Illusion erzeugt, dass die phänomenale Welt real ist." Danach ist Maya auf der menschlichen Suche nach Selbsterkenntnis das, was ein Individuum verdunkelt, verwirrt und ablenkt.

Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers fasst dies wie folgt zusammen: "Der Mensch steht heute vor der Alternative: Untergang des Menschen oder Wandlung des Menschen." 

Der gewollte große Umbruch ist in der Tat kein Geheimnis und muss an sich nicht unbedingt als direkt negativ gesehen werden - sofern eine bessere Zukunft und ein Wechsel hin zu einem neuen, menschengerechten System erzielt werden kann. In diesem Kontext kann man sagen, dass die Alternativlosigkeit der Wandlung des Menschen als einzige Alternative zum ansonsten drohenden Untergang mit dezidiertem Tatendrang durchzusetzen, womit man eigentlich, wie schon erwähnt positiv betrachtet, durchaus einverstanden sein kann.

So stellt sich die Frage, wie sich die Menschen aus diese, Dilemma lösen können und dieses Wissen im positiven nutzen können, um einer zunehmend krankenden Gesellschaft zu entfliehen. Dieser Aufsatz soll dazu einige Denkanstöße geben.

Zwei Alternativen

Um zu verstehen, was diese Form der Flucht mit sich bringt, werden wir sie mit zwei anderen Arten der Flucht vor den Härten des Lebens während einer sich anbahnenden totalitären Machtübernahme vergleichen: der rückwärts gerichteten Flucht und der physischen Flucht.

Bei ersterer wird das Bewusstsein über die Realität und die Unsicherheit der eigenen Situation durch den Konsum von Drogen und Alkohol oder durch stundenlanges Zappen vor Bildschirmen abgestumpft. Diese Art der Flucht kann kurzfristig Angstgefühle, Depressionen und Langeweile lindern, aber je mehr man sich auf solche Aktivitäten verlässt, desto drastischer verschlechtert sich die eigene seelische Gesundheit.

"Der Kult der Passivität und der sogenannten Entspannung ist eine der gefährlichsten Entwicklungen unserer Zeit. Im Wesentlichen handelt es sich um ein Tarnmuster, den doppelten Wunsch, die Gefahren und Herausforderungen des Lebens nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden. Stille, einsame Entspannung durch Alkohol, Süßigkeiten oder den Fernsehbildschirm kann den Geist in eine Passivität versetzen, die ihn allmählich anfällig für die verführerische Ideologie eines gefürchteten Feindes macht. Die Gefahr des Totalitarismus durch Passivität zu leugnen, kann diejenigen, die sich anfangs noch vor ihm gefürchtet haben, allmählich seinen Schmeicheleien ausliefern." JOOST MEERLOO

Eine Alternative zur rückwärtsgewandten Flucht ist die physische Flucht. Sie besteht darin, an einen Ort zu ziehen, der mehr Freiheit bietet. Diese Form der Flucht hat viele Vorteile, denn warum sollten wir uns angesichts der Tatsache, dass wir nur einmal leben, nicht irgendwo aufhalten, wo es keine erdrückende Kontrolle durch korrupte und machthungrige Politiker beziehungsweise Bürokraten gibt? Aber auch diese Form der Flucht birgt Probleme.

Erstens ist es für viele Menschen nicht leicht zu bewerkstelligen, einfach die Sachen zu packen und in ein neues Land zu ziehen. Zweitens: Wenn der Aufstieg der Tyrannei ein Phänomen ist, das sich global ausbreitet, werden jene Orte, die jetzt noch frei sind, es nicht mehr lange bleiben. Weglaufen, wie im Fall der rückwärtsgewandten Flucht, ist daher keine ideale Lösung, um dem Aufstieg des Totalitarismus zu begegnen. Eine bessere Alternative besteht in einer Flucht nach vorne, die in eine neue und bessere Wirklichkeit führt.

Flucht nach vorne

Was bringt diese Flucht mit sich? Um das zu beantworten, müssen wir mit der Vorstellung aufräumen, dass der Totalitarismus durch das Befolgen von Befehlen besänftigt werden kann. Viele Menschen beugen sich Möchtegern-Totalitaristen, weil sie glauben, dass dies der schnellste Weg sei, um zu einem gewissen Anschein von Normalität zurückzukehren. Doch dabei handelt es sich um eine feige und ignorante Handlungsweise.

Hannah Arendt hat in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ darauf hingewiesen, dass Nachgiebigkeit totalitäre Regime nur bestärkt:

„Der charakteristischste Aspekt des totalitären Terrors [ist], dass er losgelassen wird, wenn jeder organisierte Widerstand erlahmt ist und der totalitäre Herrscher weiß, dass er keine Angst mehr zu haben braucht …Stalin begann seine gewaltigen Säuberungen nicht 1928, als er einräumte: »Wir haben innere Feinde«, sondern 1934, als alle früheren Gegner »ihre Fehler eingestanden hatten« und Stalin selbst auf dem Siebzehnten Parteitag erklärte: »Es gibt nichts mehr zu beweisen und, wie es scheint, auch niemanden zu bekämpfen«.“ HANNAH ARENDT

Parallelgesellschaften

Konformität ist der Nährboden für Totalitaristen. Sie ist nicht der Weg zurück zur Normalität und wird es auch nie sein. Vielmehr erweisen sich Konformitätsverweigerung und ziviler Ungehorsam als unerlässlich, um dem Aufkommen totalitärer Herrschaft entgegenzuwirken. Aber neben Widerstand erfordert die Flucht in eine Realität, in der die Krankheit der totalitären Herrschaft nicht existiert, den Aufbau einer Parallelgesellschaft.

Eine Parallelgesellschaft dient vor allem zwei Zwecken: Sie bietet denjenigen, die vom totalitären System abgelehnt werden oder sich weigern, an ihm teilzunehmen, Freiräume. Und sie bildet die Grundlage für eine neue Gesellschaft, die aus der Asche der durch den Totalitarismus angerichteten Zerstörung erwachsen kann. Oder wie Václav Havel in „Die Macht der Machtlosen“ erklärt:

„Wenn denjenigen, die sich entschieden haben, in der Wahrheit zu leben, jeder direkte Einfluss auf die bestehenden sozialen Strukturen verwehrt wird, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, an ihnen teilzuhaben, und wenn diese Menschen beginnen, das zu schaffen, was ich das unabhängige Leben der Gesellschaft genannt habe, dann beginnt dieses unabhängige Leben von selbst, sich auf eine bestimmte Weise zu strukturieren … [Diese] parallelen Strukturen entstehen nicht aus einer theoretischen Vision systemischer Veränderungen (es geht nicht um politische Sekten), sondern aus den Lebenszielen und den authentischen Bedürfnissen echter Menschen.“ VÁCLAV HAVEL

Eine der wichtigsten Aufgaben, die sich Dissidentenbewegungen stellen, ist die Unterstützung und Entwicklung paralleler sozialer Strukturen.

Flow und Rausch

„Flow“ ist ein optimaler Bewusstseinszustand, „in dem die Aufmerksamkeit so eng auf eine Tätigkeit gerichtet ist, dass das Zeitgefühl und die Mühen und Sorgen des Alltags verblassen.“ (Natasha Dow Schüll: „Addiction by Design“). „Rausch“ hingegen ist das Wort, das Nietzsche etwa in seiner Schrift „Götzen-Dämmerung“ für einen kognitiven Zustand verwendet, der dem Flow ähnelt: „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle.“

Rausch ist ein Nebenprodukt des konzentrierten Versuchs, Veränderungen in der realen Welt herbeizuführen, und wenn wir uns im Rausch befinden erbringen wir – nicht anders als im Zustand des Flows – unsere besten Leistungen. John Richardson schreibt in „Nietzsches New Darwinism“ hierzu:

„Im Rausch spürt der Organismus seine Kapazitäten auf einem Höhepunkt und hat Freude an dieser gesteigerten Potenz. Diese Kapazitäten sind Antriebe, um auf die Welt einzuwirken, und im Rausch fühlt man sich übersättigt von ihnen und brennt darauf, die Dinge so zu verändern, dass sie zu einem passen.“

Sowohl Flow als auch Rausch sind gesunde Wege, um den alltäglichen Miseren des Lebens in einer kranken Gesellschaft zu entkommen. Im Gegensatz zu den betäubenden Erlebniszonen der rückwärtsgewandten Flucht, die uns körperlich und geistig schwächen, stärken Flow und Rausch uns und steigern unser Machtgefühl. Je mehr Menschen Flow und Rausch erleben, desto schwieriger ist es für die Machthaber, ihre Bevölkerung in die Ketten totalitärer Knechtschaft zu treiben. Denn wie schon Alexander Solschenizyn warnte: „Keine noch so mächtigen Waffen können dem Westen helfen, solange er nicht seinen Verlust an Willenskraft überwindet“.

Zu versuchen, die Flucht nach vorne zu ergreifen, indem man zur Schaffung einer Parallelgesellschaft beiträgt und dabei die Zustände des Flows und des Rauschs erreicht, ist mit Risiken verbunden und ein Erfolg nicht garantiert. Und doch handelt es sich um eine weitaus bessere Option, als nur passiv zuzusehen und zu hoffen, dass die Lage besser wird.

„Hoffnung“, schreibt Nietzsche, sei „in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.“ Anstelle des bloßen Hoffens ist das mutige Handeln möglichst vieler Menschen erforderlich, um das Entstehen totalitärer Herrschaft zu verhindern. Und je eher die Menschen den Möchtegern-Totalitaristen trotzen, desto größer ist die Chance auf Erfolg. Denn der Fehler, der in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts immer wieder gemacht wurde, bestand darin, dass die Bürger nicht früh genug handelten.

Milton Mayer interviewt in seinem Buch „They Thought They Were Free“ einen Menschen, der Hitlers Herrschaft miterlebt hat – seine Worte sollten als Warnung für diejenigen dienen, die in einer Gesellschaft leben, die Gefahr läuft, von der lebenszerstörenden Maschinerie totalitärer Herrschaft verschlungen zu werden:

„Man wartet auf einen großen schockierenden Anlass und denkt, dass andere, wenn ein solcher Schock kommt, sich mit einem zusammenschließen werden, um irgendwie Widerstand zu leisten … Aber so eine Gelegenheit, bei der sich Dutzende oder Hunderte oder Tausende zusammenschließen, kommt nie … Wenn die letzte und schlimmste Tat des ganzen Regimes unmittelbar nach der ersten und kleinsten erfolgt wäre, hätten Tausende, ja Millionen ausreichend erschrocken reagiert … Aber so läuft es natürlich nicht. Dazwischen liegen hunderte von kleinen Schritten, einige davon unmerklich, und jeder von ihnen bereitet dich darauf vor, nicht vom nächsten erschrocken zu sein … Und eines Tages, zu spät, stürzen deine Prinzipien, falls du jemals empfänglich für sie warst, auf dich ein … und du siehst, dass sich alles – alles – verändert hat … Nun lebst du in einer Welt des Hasses und der Angst, und die Menschen, die hassen und fürchten, wissen es nicht einmal; denn wenn alle verändert sind, ist niemand verändert.“